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Berliner Organisation Psychiatrie-Erfahrener und Psychiatrie-Betroffener

Berliner Landesorganisation des Bundesverbandes Psychiatrie Erfahrener BPE e.V.

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STIMMENHÖREN

von Hannelore Klafki

Viele Menschen hören Stimmen, das heißt, sie hören ganz real gesprochene Worte, die nur sie selbst hören können. Die Stimmen können verunsichern, viel Leid und schwere Krisen verursachen. Das muss aber nicht immer so sein. Niederländische Untersuchungen ergaben, dass etwa zwei Drittel aller Betroffenen gut mit diesem Phänomen leben können. Die Stimmen können in den Hintergrund rücken und so „erzogen“ werden, dass sie das Leben nicht beeinträchtigen. Sie können von allein wieder ganz verschwinden oder sich sogar zu einer Lebensbereicherung entwickeln. Aus der Geschichte bis zur Gegenwart sind z.B. folgende Persönlichkeiten bekannt: Hildegard v. Bingen, Jean d’Arc, Lessing, Goethe, Rilke, C. G. Jung, Virginia Woolf, Andy Warhol u.a. Oft ist nicht das Hören von Stimmen an sich das Problem, sondern die Unfähigkeit, damit umzugehen.

Häufige Folgen für Stimmen hörende Menschen sind Stigmatisierung, Diskriminierung und Isolation. In unserer westlichen Kultur gelten außergewöhnliche Wahrnehmungen als Symptom einer schweren psychischen Krankheit, deshalb wagen die wenigsten Betroffenen über ihr Erleben zu reden. Viele suchen Hilfe in der Psychiatrie. Die Behandlung besteht hier überwiegend aus der Verordnung von Psychopharmaka und 80 Prozent aller Stimmen hörenden Menschen erhalten die Diagnose Schizophrenie. Diese Diagnose und die Tatsache, dass ihr Erleben lediglich als krankhafte „Halluzination“ angesehen wird, hilft den Betroffenen nicht, ihr Erleben zu verarbeiten, sondern wird von den meisten als Diskriminierung erlebt. Inzwischen ist bekannt, dass die Psychopharmaka bei etwa der Hälfte der Betroffenen nicht wirken.

Eine von allen akzeptierte Erklärung, warum ein Mensch plötzlich anfängt, Stimmen zu hören, gibt es nicht. In der Psychiatrie werden überwiegend genetische Gründe vermutet. Das ist einseitig und inzwischen ist bekannt, dass viele Umstände zum Stimmenhören führen können: z.B. schwere traumatische Erlebnisse, Trennung, Einsamkeit, seelische Not, aber auch Sucht- und Drogenprobleme. Diese Aufzählung ist garantiert nicht vollzählig. Menschen können in Trauerzeiten plötzlich die Stimme des Verstorbenen hören, was oft als Trost empfunden wird. Es gibt Untersuchuingen, die belegen, dass z.B. Hochseesegler, wenn sie allein auf dem Meer sind, Stimmen hören. Amnesty International hat festgestellt, dass 80 Prozent aller Folteropfer unter der Folter Stimmen hören. Niemand würde bei diesen Beispielen von Krankheit reden – im Gegenteil! Wenn ein Mensch also anfängt, Stimmen zu hören, hat er meist etwas erlebt, mit dem er nicht fertig wird. Das heißt, dass das Stimmenhören oft der unbewusste Versuch ist, diese Erlebnisse zu verarbeiten. Jeder Mensch kann plötzlich anfangen, Stimmen zu hören, unabhängig von Alter und Familienstand, Bildung und Beruf, Sozialisierung und Einkommen. Niederländische Untersuchungen belegen, dass drei bis fünf Prozent aller Menschen Stimmen hören. In Deutschland geht man von einem ähnlich hohen Potential aus.

Mein persönlicher Erfahrungsbericht

hannelore1Bei mir begann alles, als ich 16 Jahre alt war. Ich war sehr erschrocken und konnte mir nicht erklären, was da mit mir passierte. Es dauerte, bis es mir gelang, mich mit den Stimmen zu arrangieren und war aber harte Zeit, in der ich oft in der Psychiatrie war. Ich erzählte niemanden von meinen Stimmen, reagierte aber körperlich auf sie. Wenn sie zu unerträglich wurden, kollabierte ich und wurde mit dem Notarztwagen in die Klinik gebracht. Hier wurde ich auf epileptische Anfälle untersucht. Epileptiker wurden in Deutschland Ende der 60er Jahre noch in der Psychiatrie untergebracht. Das Kollabieren war die erste Strategie, die ich entwickelte. Der nächste Schritt war, dass ich entdeckte, dass ich sie von mir ablenken konnte. Das gelang mir, indem ich ihnen „geistige Nahrung“ gab: durch Lesen oder Musikhören wurden sie leiser. Auch wenn ich viel unternahm, redeten sie nicht mehr so laut auf mich ein. Ich verabredete mit ihnen, dass sie mich tagsüber zufrieden lassen sollten und nahm mir dafür morgens Zeit für sie. Es dauerte eine Weile, bis es klappte, aber dann hatten wir morgens angeregte Gespräche, in denen ich lernte, zu akzeptieren, dass sie mein Leben begleiten. Zu den anfangs nur negativen Stimmen kamen positive dazu, die mir Ratschläge und Tipps gaben. So lebte ich ca. 15 Jahre ohne größere Beeinträchtigungen durch die Stimmen ein ganz normales Leben.

Der Rückfall, die Psychiatrie und die Stabilisierung

Dann kam es zu großen Veränderungen in meinem Leben. Umzug, Scheidung und eine Umschulung brachten Turbulenzen und Stress. Immer häufiger kamen Stimmen dazu, die mich störten und beunruhigten. Sie waren wie Kobolde die mich nachäfften, meine Gesprächspartner ins Lächerliche zogen oder meine Äußerungen kommentierten. Sie hielten mich vom Schlafen ab, verboten mir zu essen und waren sehr laut. In einer extremen Situation hatte ich das Gefühl, dass die böseste dieser Stimmen in meinen Kopf kroch und in Form einer Automatenstimme die schlimmsten Beschimpfungen und Befehle aussprach, die darauf hinaus liefen, dass ich nicht wert sei zu leben und mich umzubringen hätte. Es war so unerträglich, dass ich aus meinem Körper ausstieg und in die Psychiatrie gebracht werden musste. 1990 erzählte ich in einer ähnlichen Situation in einer Klinik zum ersten Mal von den Stimmen. Seitdem habe ich sechs verschiedene psychiatrische Diagnosen, von denen die Schizophrenie mich am meisten betroffen machte. Viele Neuroleptika wurden bei mir ausprobiert, gegen die die Stimmen aber immun waren. Mein schlimmstes Erlebnis war, als ich Haldol nehmen musste, das ja noch immer das Mittel der Wahl bei Stimmenhören ist. Verunsichert durch die Diagnosen der Psychiater/innen und ihren Beteuerungen, dass ich unheilbar psychisch krank sei, resignierte ich und ergab mich in mein Schicksal. Das hatte zur Folge, dass die Stimmen immer aggressiver wurden. Ich führte einen Dauerkampf mit ihnen, der mich zur Drehtürpatientin machte.

Dann kam es zu einer Wende in dieser für mich inzwischen hoffnungslosen Situation: 1992 lernte ich eine psychosoziale Kontakt- und Begegnungsstätte kennen, wo ich auf eine Sozialarbeiterin traf, die mich im Kampf gegen die Stimmen unterstützte, indem sie mich und meine Stimmen sehr ernst nahm.

Heute habe ich zu der früheren Beziehung zu meinen Stimmen zurückgefunden und kann das Anschwellen des Stimmengemurmels als Warnung wahrnehmen: irgend etwas ist dann bei mir nicht in Ordnung. Das kann zu großer Druck sein, den Andere oder ich mir selbst verursachen, oder eine Konfliktsituation, die ich noch nicht als solche erkannt habe. Dann können sie wie ungezogene Kinder sein, die ich an einem ungestörten Ort scharf zurechtweisen muss. Wenn ich gewusst hätte, wie befreiend das Reden über meine Stimmen mit anderen Betroffenen sein kann! Erst in unserer Selbsthilfegruppe habe ich gelernt, dass ich meine Stimmen im Zusammenhang mit meiner Lebensgeschichte sehen sollte. Deshalb rate ich anderen Betroffenen, mit Gleichgesinnten über die Stimmen zu reden. Es hat mir auch geholfen, Texte über das Stimmenhören zu lesen. Ein Stimmentagebuch zu führen und Teile davon in der Gruppe zu diskutieren, war ein weiterer Schritt, wieder Kontrolle über die Stimmen zu bekommen. Der Hauptgrund, warum ich jetzt seit 1997 ohne Klinik und Medikamente leben kann, ist sicher, dass ich mich in der Stimmenhörer-Bewegung engagiert habe. Ich sage immer: „indem ich anderen helfe, helfe ich auch mir“.

Das Netzwerk Stimmenhören e.V.

Angeregt durch die Aktivitäten der Stimmenhörernetzwerke in den Niederlanden und in Großbritannien begannen in Deutschland Anfang der 90er Jahre erste Psychiatriemitarbeiter/innen das Phänomen Stimmenhören näher zu betrachten. Sie organisierten Arbeitsgruppen und kleinere Veranstaltungen zum Thema. Forschungsergebnisse aus den Niederlanden wurden vorgestellt, die belegten, dass viele der Betroffenen gut mit dem Phänomen leben konnten und nie Patient/innen der Psychiatrie waren. Mehr und mehr Betroffene wurden dadurch ermutigt, über ihr Erleben zu sprechen. Zuerst in Berlin und Kiel, später in  weiteren Städten Deutschlands fanden sich Betroffene in Selbsthilfegruppen zusammen.

1997 fanden zwei größere Veranstaltungen in Hamburg und in Berlin statt. Auf der Veranstaltung in Berlin wurde die Gründung des deutschen Netzwerks Stimmenhören als Verein (kurz NeSt) beschlossen. Eine Satzung wurde entworfen, die die Richtlinien des künftigen Vereins festlegte.

1998 fand die Gründungsveranstaltung des NeSt statt, in dem Stimmen hörende Menschen, Angehörige und in Psychiatrie, Psychotherapie und Betreuung Berufstätige organisiert sind.

Die Aktivitäten des NeSt

Die Aktivitäten des NeSt konzentrieren sich auf die zwei Hauptschwerpunkte „Hilfsangebote alternativ zur Psychiatrie“ und „Information und Weiterbildung“.  Ziel der Hilfsangebote ist, den Betroffenen ein „normales“ Leben zu ermöglichen und somit Psychiatrieaufenthalte zu vermeiden. Das NeSt betrachtet Stimmen hörende Menschen nicht als Kranke, sondern als Menschen in Not, die mit ihren Stimmen ernst genommen werden wollen. Konkret bedeutet das, den Betroffenen zu helfen, einen konstruktiven Umgang mit den Stimmen zu entwickeln, damit sie ihr Leben wieder selbst in die Hand nehmen können. Im Bereich „Weiterbildung und Information“ soll das Anliegen des NeSt: „Wer Stimmen hört, muss nicht automatisch krank sein!“ in der Gesellschaft verbreitet werden. Damit soll die Akzeptanz von Menschen mit außergewöhnlichen Beratungen gefördert und somit die Stigmatisierung und Chronifizierung der Betroffenen vermieden werden.

Die Forderungen des NeSt:

  • Sehen Sie das Stimmenhören nicht nur als Symptom einer Krankheit an. Überlegen Sie, dass drei bis fünf Prozent aller Menschen Stimmen hören oder schon einmal in ihrem Leben Stimmen hörten. Viele von ihnen waren noch nie in der Psychiatrie und wollen ihre Stimmen auch nicht verlieren.
  • Akzeptieren Sie unsere unterschiedlichen Erklärungsmodelle – jede Erklärung, die dabei hilft, mit den Stimmen umzugehen, ist besser als keine.
  • Helfen Sie uns dabei, zu übersetzen, was uns die Stimmen sagen wollen. Deshalb ist es wichtig zu wissen, was die Stimmen sagen und falsch sie um jeden Preis abtöten zu wollen. Professor Marius Romme aus Holland hat schon 1991 gesagt: „Es ist sinnlos, den Boten zu töten, der die Botschaft überbringt, wenn die Botschaft die gleiche bleibt.“
  • Helfen Sie uns dabei, die Stimmen als zu uns gehörend in unser Leben zu integrieren. Nur dann können wir Strategien zum Umgang mit ihnen entwickeln.

Nicht das Stimmenhören an sich muss das Problem sein, oft ist es die Unfähigkeit, mit den Stimmen umzugehen. Machen Sie uns Mut, indem Sie uns mitteilen, dass es Menschen gibt, die gelernt haben, mit den Stimmen umzugehen. Die Stimmen können sich zu einer Lebensbereicherung entwickeln, man kann lernen, sie zu erziehen, sie können in den Hintergrund rücken, oder auch wieder ganz verschwinden.

Mehr zum Thema Stimmenn hören beim Netzwerk Stimmenhören (NeSt)

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