von Hannelore Klafki (2004)
Ich bin jetzt 51 Jahre alt. Mit 16 – vor 35 Jahren – hörte ich das erste Mal Stimmen. Aus Angst, für verrückt erklärt zu werden, erzählte ich niemandem von den Stim-men. Es gelang mir, nach anfänglichen großen Schwierigkeiten und ersten Psy-chiatrieaufenthalten, mich so mit den Stimmen zu arrangieren, dass sie mein Leben nicht wesentlich beeinträchtigten. Sie begleiteten mein Leben, gehörten zu mir und gaben mir Ratschläge und Tipps. Wenn sie mal zu aufdringlich waren, konn-te ich sie wie ungezogene Kinder zurückweisen. Alles lief gut, bis ich fast zwanzig Jahre nach dem ersten Auftreten der Stimmen durch verschiedene Ereignisse in eine schwere Lebenskrise geriet. Ich befand mich in einer für mich damals ausweglosen Situation. Dadurch verwandelten sich die Stimmen und wurden zu bedrohlichen Quälgeistern. Ich suchte Hil-fe in der Psychiatrie und erzählte von den jetzt sehr Angst machenden Stimmen. Meine Odyssee in der Psychiatrie begann. Ich bekam alle möglichen Psychopharmaka, die die Stimmen abtöten sollten, doch nichts half. Immer öfter war ich in der Psychiatrie, wo mir versichert wurde, dass ich sehr schwer psychisch erkrankt sei – im Laufe dieser Zeit erhielt ich sechs ver-schiedene psychiatrische Diagnosen. Das hatte zur Folge, dass ich mich immer mehr isolierte, mich aufgab und mein Leben nicht mehr in den Griff bekam. Meine ausweglose Situation wurde durch die Psychopharmaka und Diagnosen noch verstärkt und drängte mich lange Zeit in eine hoffnungslos kranke Opferrolle.Dann kam es zu einer Wende in diesem Karussell aus Isolation, Klinik und immer neuen Medikamenten. Ein Mitpatient schleppte mich in den Treffpunkt der Pi-nel-Gesellschaft in den S-Bahnhof Schöneberg. Hier traf ich auf eine sehr engagierte Sozialarbeiterin (Gitta Dressel), die in mir nicht nur die schwer psychisch kranke Frau sah, sondern ganz „normal“ mit mir redete. Zuerst konnte ich es gar nicht fassen, dass da plötzlich jemand mit mir wie mit einem „normalen“ Menschen sprach. Zum ersten mal nach langer Zeit fühlte ich mich ernstgenommen. Gitta Dressel war eine der ersten, die in Deutschland Anfang der 90er Jahre be-gannen, das Phänomen Stimmenhören näher zu betrachten. PsychiatriemitarbeiterInnen, wie z.B. Ursula Plog, Thomas Bock und Monika Hoffmann organisierten erste Arbeitsgruppen und kleinere Veranstaltungen zum Thema. Sie stellten Forschungsergebnisse aus den Niederlanden von Marius Romme und Sandra Escher vor, die belegten, dass viele der Betroffenen gut mit dem Phänomen leben können und nie PatientInnen der Psychiatrie waren. Mehr und mehr Betroffene wurden dadurch ermutigt, über ihr Erleben zu sprechen. Auch ich fing langsam wieder an, mich an die Jahre mit den Stimmen ohne Psychiatrie zu erinnern, die vollkommen weggedrängt waren. Ganz allmählich begann ich, mich zu wehren. Ich gründete eine Selbsthilfegruppe in Berlin, fast zeitgleich mit Günther Rieger in Kiel. 1997 besuchten wir eine erste größere Veranstaltung in Hamburg, auf der schon ein erstes kleines Netzwerk entstand. Spontan lud ich zu einem weiteren Treffen im gleichen Jahr in Berlin ein. In weiteren Städten fanden sich Betroffene in Selbst-hilfegruppen zusammen.
Voller neuer Impulse und voller Elan kam ich wieder nach Berlin zurück. Wir müssen in Berlin unbedingt auch ein Netzwerk schaffen! Aber wer hilft? Wo finde ich Mit-streiterInnen? Ich stürzte mich in die Ar-beit, war zwischendurch logischer Weise doch sehr erschöpft, fiel auf die Nase und landete ein letztes Mal in der Psychiatrie. Hier war ich aber diesmal nur ein paar Tage. Zu empört war ich darüber, wie ich dort „behandelt“ wurde. Die Psychiater meinten, dass ich mich doch erst einmal um mich selber kümmern müsste, damit ich meine „Krankheit“ in den Griff bekäme. Denn jetzt hätten sie endlich die richtige Diagnose für mich, nämlich „manisch/depressiv“! Dafür hätten sie nun auch die richtigen Psychopharmaka. Ich glaubte, nicht richtig zu hören und entließ mich selber. Seitdem war ich nicht mehr in der Psychiatrie, habe keine Psychopharmaka mehr genommen und keine neue Diagnose mehr bekommen.
Nach der Entlassung stürzte ich mich wieder in die Arbeit und bereitete den ersten Kongress im Rathaus Neukölln vor. Viele ließen sich durch meine Begeisterung anstecken und plötzlich waren wir eine kleine aber tolle Gruppe. Dadurch, aber auch durch die große Unterstützung des Tageszentrums Schöneberg wurde es eine gelungene Veranstaltung. Hier lernten die TeilnehmerInnen Ron Coleman kennen, der sein berühmtes Referat „From Victom to Victor“ (vom Opfer zum Sieger) hielt. Er half, alle so zu motivieren, dass die Gründung des deutschen Netzwerks Stimmenhören als Verein beschlossen wurde. 1998 fand die Gründungsveranstaltung des NeSt statt, in dem seit dem Stimmen hörende Menschen, Angehörige und in der Psychiatrie Berufstätige organisiert sind. Ziel aller drei Gruppen im NeSt ist, Krisen vorzubeugen, um Klinikaufenthalte zu vermeiden beziehungsweise zu minimieren. Im Laufe der Jahre wurde das NeSt immer bekannter. Schwerpunkte der Arbeit des NeSt sind die „Hilfsangebote alternativ zur Psychiatrie“ und die „Information und Öffentlichkeitsarbeit“. Nähere Informationen unter: 78 718 068 oder unter www.stimmenhoeren.de
Hätte es das NeSt schon damals gegeben, als ich in diese schwere Lebenskrise geriet, wäre mir die Psychiatrisierung si-cher erspart geblieben. Aber hätten wir das alles immer noch nicht, würde ich heute vielleicht einer der so genannten chronischen Fälle sein: eine von vielen Betroffenen, die ihr Leben ohne Psycho-pharmaka, Unterstützung und Betreuung nicht führen könnte. Gottseidank habe ich mich aus der Opferrolle befreien können Ich habe mich vom Opfer zu einer Expertin in eigener Sache entwickelt.
Dafür danke ich dem NeSt. Ohne mein Engagement für das NeSt würde ich nicht da stehen, wo ich heute stehe. Ich sage immer: indem ich versuche, anderen zu helfen, helfe ich auch immer mir selber. Seit Juni höre ich nun keine Stimmen mehr. Das ist sicher eine logische Ent-wicklung. Die Psychiatrie war keine Hilfe für mich. Sie verstärkte meine Ohnmacht und hielt mich in der Opferrolle gefangen. Deshalb war das NeSt für mich so wichtig. Ich brauchte diese Aufgabe auch für mich und deshalb konnte ich mich auch so vol-ler Elan in die Arbeit stürzen. Das hat mir geholfen!
Das NeSt und ich – wir beide haben uns gegenseitig gebraucht und von einander profitiert. Es war ein gegenseitiges Geben und Nehmen. Streckenweise konnte ich mir mein Leben ohne das NeSt gar nicht mehr vorstellen. Doch die Entwicklung geht weiter. Immer öfter werde ich gefragt, ob ich mich nicht auch in anderen Bereichen der Psychiatrie engagieren könnte. Ich antwortete immer: Leute, Ihr könnt mich nicht verheizen, ich kann mich doch nicht zerteilen und auf jeder Hochzeit tanzen. Gleichzeitig sehe ich aber, dass noch immer viel in der Psychiatrie zu kritisieren ist. Wenn ich die einzelnen Geschichten der Betroffenen höre, bleibt mir vor Empörung manchmal regelrecht die Sprache weg. In der Zwischenzeit sind im NeSt gute neue Konzepte entstanden, die die Verantwortlichkeiten auf mehrere Schultern verteilen. Jetzt ist für mich die Zeit gekommen, den Vorstand des NeSt zu verlassen. Das Kind, dass ich mal auf den Weg gebracht habe, hat laufen gelernt. Aber nicht nur das NeSt entwickelt sich immer weiter, sondern auch ich. Nein, noch immer habe ich mich nicht zu einer militanten Vertreterin der Antipsychiatrie entwickelt, aber ich bin zu einer sehr kritischen Begleiterin der Psychiatrie geworden und stimme inzwischen auch mit vie-len Punkten der Antipsychiatrie überein. Logische Konsequenz ist, dass ich auf der letzten Mitgliederversammlung des Bundesverbandes der Psychiatrie-Erfahrenen in den geschäftsführenden Vorstand gegangen bin, um auf politischer Ebene die Interessen der Psychiatrie-Erfahrenen durchzusetzen.