Am 9.September 2023 fand die behindert und verrückt feiern Pride Parade Berlin stadt. Johanna Rothe hielt für BOP&P eine Rede mit dem Titel: „Warum ich von dem Rat, sich bei psychischen Problemen professionelle Hilfe zu suchen, nichts halte.“ Ein Video davon könnt ihr hier sehen. Weiter unten folgt eine Transkription.
Lena und Michi: .. und Krüppel, Verrückte und Lahme, Eigensinnige und Blinde, Taube und Normalgestörte, herzlich willkommen zur Zwischenkundgebung der 10. Behindert und verrückt feiern Pride Parade Berlin! (Juhuu-Rufe.) Wir sind Lena und Michi. Wir moderieren heute für euch. Lena hat ein super Katzenkleid an. Ich habe einen Hosenanzug mit wunderschönen Blumen drauf an. Wir sind auch Chris, Pia, Mille und Jona, die heute viele Beiträge in Deutsche Gebärdensprache für uns übersetzen. Ein herzliches Dankeschön von uns, und ein riesiger Applaus nochmal! (Applaus)
Lena: Okay, los geht’s jetzt hier bei der Zwischen Kundgebung mit einem Redebeitrag von Johanna. Johanna Rothe ist hier von der Berliner Organisation Psychiatrie-Erfahrener und Psychiatrie-Betroffener, kurz gesagt BOP&P. Sie schreibt gerne über Psychiatrie, über Verrücktsein und andere Themen und betreibt eine eigene Webseite: http – und so weiter (verlegenes Lachen) – entisolieren.de. Ihr Beitrag handelt davon, warum sie von dem allgemeinen Rat, sich bei psychischen Problemen professionelle Hilfe zu suchen, nichts hält. Ich gebe das Wort an Johanna. Cool, dass sie da ist! (Applaus)
Johanna: Vielen Dank, Lena! Vielen Dank, ihr alle, dass ihr da seid! Ehm, wie sehe ich aus? Kurz. Ich bin weiß, groß, dünn. Ich trage ein lila Shirt und eine schwarze Hose, meine – so – braunen, glatten Haare in einem Pferdeschwanz, und eine Brille. So, jetzt geht’s los.
Wir sind heute hier als eine Vielzahl von Communities. So unterschiedlich die Wege, die uns hierher geführt haben, – wir sind hier, um miteinander zu feiern, um miteinander Stärke zu finden. Ich wünsche mir sehr, dass wir miteinander stark sind. Ich wünsche mir, dass wir einander – und unsere Communities – stärken, nicht nur hier und jetzt, sondern auch in der Zukunft. Deshalb möchte ich mit euch über einen Satz reden – einen Rat, genauer gesagt. Es geht um den Rat: (Achtung, nicht erschrecken): “Hol dir professionelle Hilfe.” (Zwischenruf: Oja!) Oder auch förmlich: “Wenn Sie unter Punkt-Punkt-Punkt leiden, holen Sie sich professionelle Hilfe.” (Zwischenruf: Kenn ich)
Dieser Rat wird so systematisch verbreitet, dass viele Menschen ihn einfach weitergeben, ohne ein zweites Mal drüber nachzudenken. Die allermeisten von uns werden mal Zeug*innen davon, wie Menschen in unserem Umfeld emotional am Ende sind, oder auch scheinbar nicht mehr richtig ticken. Und dann denken vielleicht auch manche von euch, sie tun für die Person das Beste, wenn sie ihr raten, sich „professionelle Hilfe“ zu suchen.
Ich halte nichts von diesem allgemeinen Rat. Warum nicht? Nun, „professionelle Hilfe“ bedeutet letztlich meistens Psychiatrie. Und für viele von uns z.B. bei BOP&P (der Berliner Organisation Psychiatrie-Erfahrener und Psychiatrie-Betroffener) war und ist die Psychiatrie: Horror. Das soll jetzt nicht der Schwerpunkt meiner kurzen Rede werden. Viele wissen darüber mehr oder weniger gut Bescheid, aber trotzdem, denken sie, gäbe es bei den emotionalen Extremzuständen des menschlichen Daseins kein Drumherumkommen um die Psychiaterinnen. Denn die Psychiaterinnen sind es – so der Glaube – die sich mit diesen Zuständen wirklich auskennen. Sie wissen besser Bescheid über uns als wir selbst, wenn wir in solchen Zuständen sind, so der Glaube.
Aber sie wissen es nicht, die Psychiater*innen. Klar, sie haben ihre Antwort, und sie tragen diese sehr selbstsicher vor. Und wenn die Antwort für uns nicht passt, dann haben sie sogar dafür eine Erklärung. Eine Erklärung, die uns die Schuld zuschiebt dafür, dass wir die Wahrheit ihrer Antwort nicht erkennen. Seit den 50er-Jahren des letzten Jahrhunderts ist die Antwort, dass unsere Zustände durch ein chemisches Ungleichgewicht im Gehirn verursacht werden. Diese Antwort passt auch perfekt zusammen mit ihrer Lösung Nummer 1, nämlich uns Psychopharmaka zu geben – also Tabletten und Spritzen für die Psyche.
Moment, ist es nicht wissenschaftlich erwiesen, dass „psychische Erkrankungen“ durch ein chemisches Ungleichgewicht im Gehirn verursacht werden? (Zwischenrufe: Nein!) – Nein, das ist es nicht. (Zwischenrufe: Nein! Hab ich recht?) Das ist eine Hypothese, also eine Annahme, auf die die Psychiatrie sich seit Jahrzehnten stützt. Dabei arbeitet sie eng zusammen mit den Firmen, die die Psychopharmaka verkaufen. Vielleicht geht das Zeitalter dieser Hypothese vom chemischen Ungleichgewicht im Gehirn langsam zu Ende. Mal sehen, wie sich das weiter entwickelt. Aber beim Zeitalter der Psychopharmaka ist noch kein Ende in Sicht, im Gegenteil: Die Verabreichungen steigen und steigen.
Das also ist der harte Kern der professionellen Hilfe.
Ich kann nicht abstreiten oder geringschätzen, dass manche Leute Psychopharmaka in bestimmten Momenten als hilfreich erfahren, oder auch dauerhaft als ein kleineres Übel. Unsere jeweiligen Erfahrungen mit Psychiatrie – negativ, positiv, sowohl-als-auch – können nicht einfach als Maßstab für andere Menschen dienen. Die Wege, die wir finden, mit unseren Nöten und Wünschen umzugehen und aus unmöglichen Situationen irgendwie Veränderungen herauszukratzen, sind sehr verschieden. Aber der allgemeine Rat, sich bei psychischen Problemen „professionelle Hilfe“ zu suchen, kann dadurch nicht gerechtfertigt werden.
Die Probleme mit diesem Rat sind schwerwiegend: Manche verzweifelten Menschen investieren ihre letzte Hoffnung in die versprochene “professionelle Hilfe” – entsprechend vernichtend ist dann die Erfahrung, dort respektlos behandelt oder abgewiesen zu werden.
Und, biete ich jetzt einen Vorschlag an für einen anderen Satz, den wir sagen können, statt dem “Hol dir professionelle Hilfe”? Nein, denn so einen Wunder-Satz, mit dem man immer richtig liegt, gibt es nicht. Je nach Situation, je nach unserer Beziehung zu der betreffenden Person, würde ich uns allen vielleicht raten, selbst die passenden Worte zu suchen oder auf andere Art und Weise zu versuchen da zu sein, wenn wir das können. Mit eigenen, ehrlichen Worten – oder auch ohne viel zu reden – können wir, glaube ich, eher helfen und weniger Schaden anrichten, als mit zweifelhaften Versprechungen.
Ich danke euch fürs Zuhören! (Applaus)
Michi: Vielen, vielen Dank, Johanna! Jetzt wollen wir euch einen Rede –